Rezension: Urs Mattenberger, Luzerner Zeitung
An den Zaun gefesselt wie Jesus ans Kreuz: Vokalensemble Luzern mit bewegendem Konzert und einer Premiere
So aktuell können Chorkonzerte sein: Das Vokalensemble Luzern, erstmals unter dem Dirigat von Pirmin Lang, singt an gegen Diskriminierung queerer Menschen.
In einer Zeit, wo die Kirche von Skandalen erschüttert wird und nach Corona eine Krise der Chöre beschworen wurde, setzte der Volksaufmarsch am Sonntag in der Johanneskirche Luzern ein starkes Signal. Dass die weitläufige Raumlandschaft der Kirche praktisch bis auf den letzten Platz besetzt war, lag vor allem daran, dass Pirmin Lang – als Nachfolger von Hansjakob Egli – hier sein erstes Konzert mit dem Vokalensemble Luzern gab.
Aber auch wenn Jesus am Kreuz – im Altarraum gut sichtbar neben den Aufführenden – nicht im Scheinwerferlicht stand, passte das Kruzifix ins Programm. Denn dieses nutzte die Kirche nicht einfach als Konzertort, sondern als Symbolraum: Mit dem Oratorium «Considering Matthew Shepard» des Amerikaners Craig Hella Johnson, das die Ermordung eines Homosexuellen im Jahr 1998 mit Bezugnahmen auf Bach als Passion gestaltet.
Plädoyer für Transgender-Toleranz
Damit war das Konzert ein Beispiel dafür, wie Chöre in ihren Programmen Aktualität aufgreifen können, weit mehr, als das etwa bei Sinfoniekonzerten der Fall ist. So weitete die Aufführung in den gesprochenen Zwischentexten Johnsons Plädoyer für Toleranz gegenüber Homosexuellen aus auf die aktuelle LGBTQ- und Transgender-Debatte – bis hin zum Statement, dass 2022 in der Schweiz fast jede Woche ein Fall von körperlicher Gewalt gegen queere Menschen verzeichnet wurde.
Musikalisch löst der Komponist sein Plädoyer für Inklusion mit einem Stilpluralismus ein, der das Werk einem breiten Publikum zugänglich macht. Das prominent besetzte Instrumentalensemble verströmt sich in expressiven Klagen (Cello: Beni Santora), hilft mit viel Drive (Schlagzeug: Raphael Christen) über Längen hinweg und steuert in Pop-Songs, Blues- und Gospelnummern authentische Farben bei (Gitarren: Philipp Leon Fankhauser).
Obwohl durch diese Stilvielfalt die vielen solistischen Gesangs- und Erzählerrollen eine grosse Rolle spielen, drängen sich diese nicht in Vordergrund. Sie bleiben meist wie Stimmen aus dem Volk ins Geschehen eingewoben. Vor allem der von der Empore herunterschwebende, engelhafte Sopran von Carmela Konrad und der strahlende Tenor von Livio Schmid heben sich aus dem Kollektiv heraus und geben dem dokumentarisch gefärbten Bericht ein persönliches Gesicht.
Weit mehr als ein Chorkonzert
Als Visitenkarte für den Chor eignete sich das Werk, weil es ihm unterschiedliche Rollen zuwies. Die hohen Qualitäten des Vokalensembles – auch mit jüngeren Stimmen und ausgeglichen in allen Registern – zeigten sich, wo sich die rund 25 Sängerinnen und Sänger im Raum immer wieder neu und auch um das Publikum herum formierten. Da verbanden sich die Stimmen, breit aufgefächert, aus einer mysteriösen Dämmerung zu einem sternenfunkelnden Raumklang. Und wo Johnson dem Chor grosse Wirkungen zugesteht, steigerte sich der Vokalklang zu bedrängender Strahlkraft und zu einer flammenden Emphase, die – anders als manch kitschnahe Passagen des Werks – der Drastik des Geschehens entspricht.
Da löste das Konzert doch auch die Erwartungen an ein traditionelles Chorkonzert ein. Aber es war vor allem eine Ansage, dass Pirmin Lang mit dem Vokalensemble Luzern die Linie weiterführen wird, die Hansjakob Egli vorgespurt hat und die Pirmin Lang selber schon mit dem Händelchor verfolgte.
Dazu gehörte der Einbezug anderer Stile bis hin zu Jazz und multikulturellen Formen. Dazu gehört aber auch der Einbezug szenischer Elemente. In der Johanneskirche formierten sich Holzstäbe vor den Sängern zum Zaun, an den Matthew Shepard von seinen Peinigern gebunden wurde. Und während der Aufführung wird einem schockartig bewusst: Da hing er wie – im Kruzifix im Altarraum – Jesus am Kreuz.